Auf dem Jakobsweg zum Trockenjubiläum:

Den Jakobsweg laufen – das klingt durchaus nach einem naheliegenden Vorhaben christlicher Alkoholiker, die auf der Suche nach sich selbst, dem lieben Gott oder einem lang erträumten Abenteuer sind. Und durchaus war ich wahrscheinlich nicht die erste Pilgerin, die sich mit diesen Motiven aus der Sucht hinaus auf den weiten Weg nach Santiago de Compostela machte. Dennoch wurde auch mir als Pilgernovizin auf den ersten Metern klar: Getrunken wird überall und auch auf meinem Weg gilt es achtsam im Slalom um die vermeintlichen Verlockungen zu laufen.

Ein langer Weg nach Santiago und ein wichtiger Weg zu mir selbst. © privat

Jeder trägt sein Päckchen

Meine Pilgerreise plante ich relativ spontan, nachdem ich im April 2021 mein letztes Glas habe stehen lassen. Die lebensverändernde Erkenntnis Alkoholikerin zu sein hat mich schließlich dazu gebracht die beste Entscheidung in 36 Lebensjahren zu treffen: Ich muss überhaupt nicht trinken! Auf dieser neuen Lebensgrundlage vielen leider noch ein paar Steine in meinen Rucksack, den ich nach Nordspanien schleppen musste – ich verlor wenige Wochen hintereinander meinen Vater, meinen Großvater und meinen Hund – das war definitiv genug Ballast. Auf der anderen Seite hatte ich auch mein Studium abgeschlossen. Bevor es also endlich Zeit für die ‚Karriere‘ und den langersehnten Arbeitsalltag werden sollte bot sich die Gelegenheit: jetzt oder nie.

Start im Müßiggang

Da ich eher nicht so sportlich bin, fühlte ich mich von der Variante Porto -Santiago angesprochen: Portugals Küste und „nur“ 260 km, das klang für 2-3 Wochen herausfordernd genug. Ein Minimum an Gepäck, welches man täglich auf dem Rücken trägt, Schlafsäle mit Fremden zu teilen und das Ziel des Tages nicht genau zu kennen – eigentlich absolut nicht mein Ding, dennoch eine reizvolle Herausforderung für mein neues Ich. Und so stand ich plötzlich da, an meinem ersten Tag, auf dem Dach der Kathedrale von Porto. Mein Rucksack fühlte sich plötzlich so unendlich schwer an und mein Herz begann vor Einsamkeit zu sticheln. Krampfhaft zückte ich alle fünf Minuten mein Handy um Fotos und Sprachnachrichten mit Freunden zu teilen oder auch um zu recherchieren, wie weit irgendein Ort entfernt ist oder sogar wie er aussieht. Ich wollte eben ganz genau abschätzen und planen, auf welcher Matratze ich liegen könnte. Dieses Vorgehen war in den ersten Tagen ein innerer Kampf.

Alte Muster loslassen

Am dritten Abend kapitulierte ich. Weinend am Strand kam die Einsicht, dass sich auf dem Weg einfach nicht planen ließ. Nur wenn ich mich davon frei machte, würde ich das auch genießen können. Das war auf meinem Weg in die Nüchternheit ein ganz ähnliches Muster: die Kapitulation vor etwas Höherem, was ich einfach nicht unter Kontrolle kriegen kann. Ganz nach meinem persönlichen Leitsatz: Ich muss das nicht tun. Ich muss auf dem Jakobsweg nichts planen, genau so wenig wie ich nicht trinken muss. Meine Rechnung ging auf und ich genoss jeden Meter und jedes Bett was am Ende des Tages für mich übrigblieb.

Getrunken wird überall

Nicht selten traf ich auf andere Pilger mit denen ich ein Stück des Weges verbrachte. Dazu zählte natürlich auch die Einnahme von Mahlzeiten oder eine Kaffeepause. Dass man dazu in geselliger Runde auch die lokalen alkoholischen Spezialitäten probiert, hatte ich befürchtet. Ich habe mich oft aus diesen Runden zurückgezogen, was völlig in Ordnung war – das ist schließlich im Alltag nicht anders. In akuten Situationen half mir zudem der Gedanke daran, dass ich mit einem Kater „meiner Klasse“ keinen Tag auf dem Weg überstanden hätte. Es war ein Slalom bis Santiago, aber er hat meine neuen Muster gefestigt und mich so viel Wertvolles gelehrt. Ganz frei von Planungsstress bin ich dann tatsächlich am 11. April 2022 in die Kathedrale einmarschiert, exakt 365 Tage nach meinem letzten Schluck: mein erstes Trokenjubiläum hätte damit nicht besonderer sein können.

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